Riel, Jorn
Vor dem Morgen
Zürich : Unionsverl., 2006
Schon
der Blick auf das Umschlagbild führt in die Ferne, an die Eiskante
Grönlands. Die sichtbare Weite des Horizontes im großartigen Farbenspiel
der tief stehenden Sonne; Freiheit. Rauh und schön wie der Norden
ist diese Erzählung archaisch. In welcher Zeit spielt diese Geschichte,
wann genau lebt diese Sippe? Das ist gar nicht wichtig.
Ninioq hat das Gefühl als stünde sie am Rand
des Lebens. Sie ist eine der Ältesten in der Sippe der nomadisierenden
Inuit. Alle Erfahrungen eines langen Lebens sammeln sich in ihren
Gedanken. Es ist Zeit, weiterzugeben, was sie weiß. Denn es könnte
auch bald Zeit sein, aufs Eis zu gehen. Allein, um dort zu warten
auf das Eingehen ins Reich der Ahnen. Aber dieser arktische Sommer
bringt in seiner Fülle und Schönheit erst mal Frohsinn und Leichtigkeit.
Jorn Riel entfaltet ein farbiges Panorama in starken Bildern.
Der Leser erlebt die große Freude der Sippe über
den üppigen Fischfang, das Brautwerben auf sehr eigentümliche Art,
die Unterweisung der Kinder in den Dingen des Lebens. Besonders
dabei spielt das Erzählen alter Legenden und Begebenheiten aus der
Familie eine wichtige und zwischen den Generationen verbindende
Rolle.
Das ist auch einer der Gründe warum die alte
und erfahren Ninioq mit Ihrem Enkel Manik für einige Wochen allein
auf einer Insel bleiben soll. Der Junge soll intensiv lernen, von
der Natur und von seiner weisen Großmutter. Es wird für beide eine
wunderschöne Zeit, bis der Tag anbricht, an dem sie abgeholt werden
sollen. Aber es erscheint kein Boot am Horizont. Fesselnd und dicht
erzählt ist dieses kleine Buch durchaus in einem Zug zu lesen. Dann
erschließen sich Dramatik und tiefe Wahrheit des Textes besonders
eindrücklich. Vor dem Morgen fällt eine Entscheidung, verantwortungsvoll,
gnädig und grausam.
ørn Riel wurde 1931 in Odense (Dänemark) geboren.
Er zählt zu den größten zeitgenössischen Autoren Skandinaviens und
des arktischen Nordamerika. Sein Werk umfasst über vierzig Romane,
Erzählungen, Kurzgeschichten, Märchen und Gedichte und wurde in
acht Sprachen übersetzt. 1951-1953 nahm Jørn Riel, gerade zwanzig
Jahre alt, an einer geologischen Expedition in die Arktis teil.
In dieser Zeit begann er zu schreiben. Zwei Jahre verbrachte er
auf der grönländischen Insel Ella mit einem Eskimo seines Alters,
sechzehn Jahre lebte der Autor in Grönland, der größten Insel der
Welt. 1971 begann Riel seine Geschichten über die Arktis niederzuschreiben.
In allen geht es um die Jäger und Fallensteller im Nordosten Grönlands,
und sie geben ein außergewöhnliches Zeugnis ab von der Zivilisation
der Arktis, der Kultur und dem Leben der Inuit. Jørn Riel folgt
in seinen Romanen und Erzählungen den mündlichen Erzähl-Traditionen
und dem Sprachgestus dieses nordischen Volkes, bringt den Lesenden
das Leben und die Kultur der arktischen Eiswüste in reichhaltiger
wie schalkhaft schillernder Weise nahe.
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