Kriegsende in
Tautenhain
Von Gottfried Senf
Der 15. April 1945 war ein Sonntag. Seit Tagen
herrschte wunderbares Frühlingswetter. Die Stare oben im alten Birnbaum
waren auch schon eingetroffen. Friedliche Stille einerseits, aber
am Abend vorher fuhr eine Wehrmachtseinheit durch Tautenhain und
Geschützdonner aus der Chemnitzer Gegend liessen uns immer wieder
an den noch andauernden Krieg denken. Ich erinnere mich genau an
diesen Sonntag und an die ersten Stunden nach dem Aufstehen so gegen
halb acht. Ich war 9 Jahre alt, und die große Schwester war bereits
seit halb sieben zusammen mit vielen Tautenhainern "auf der Halle",
wie der Speicher der Bezugsgenossenschaft am Bahnhof in Tautenhain
genannt wurde. Dort sollten an dem Vormittag Nahrungsmittel an die
Einwohner verteilt werden.
So gegen 8 Uhr hörten und sahen wir zwei kleine
Jagdflugzeuge sehr tief über den Ort fliegen. Im ersten Moment dachten
wir, es wären welche vom Jagdfliegerhorst draußen am Königsfelder
Kreuz. Das harte "Tackern" machte uns aber sehr bald bewusst, hier
wird scharf geschossen und es sind keineswegs deutsche Flugzeuge.
Nach diesem ersten Überflug galt nur eines: weg vom Fenster und
hinunter in den Keller.
Tatsächlich kamen sie noch mindestens 2 bis 3
mal. Ganz nahes Motorengeräusch und eben das "Tackern" der Bordgeschütze
flossen ineinander. Aber dann war ein anderes, ganz seltsames Prasseln
zu hören, als ob mehrere schwere LKW draußen vorbeifahren würden.
Als wir einige Minuten von den Flugzeugen nichts mehr hörten, lugten
wir vorsichtig durch das Wohnzimmerfenster hinaus. Es sah aus, als
ob ganz Tautenhain brennen würde. Gleich rechts sahen wir die Ursache
des seltsamen Prasselns. Die Pfarrscheune, keine 25m von unserem
Haus entfernt, stand in Flammen. Hätte der Wind ein klein wenig
anders geweht, wäre unser Haus ohne Zweifel mitverbrannt. Der große
Kirschbaum zwischen Pfarrscheune und unserem Haus - er stand zu
dieser Zeit in vollem Saft - war am nächsten Tag total verdorrt.
Als wieder einige Minuten ohne Flieger verstrichen
waren, rannten wir hinunter zu Frenzels. Deren Keller schien sicherer
zu sein und außerdem haben wir diesen Raum auch in den Wochen vorher
bei Fliegeralarm manchmal aufgesucht. Diesmal war die Lage nun wirklich
ernst. Alles war schon angsterregend genug, eine Sache aber blieb
in meiner Erinnerung ganz besonders haften. Im Keller war diesmal
auch eine Familie mit einem debilen Kind. Die Frau mit den zwei
Kindern gehörte zu den Ausgebombten, die man von Leipzig in die
umliegenden Dörfer eingewiesen hatte. Draußen die Flammen und der
Rauch, drinnen das ängstliche Lauschen der Erwachsenen und das Toben
des behinderten Kindes. Das wird wohl insgesamt eine reichliche
Stunde gedauert haben. Als draußen nichts mehr von Flugzeugen zu
hören war, ging Frau Frenzel vorsichtig nach oben. Wir warteten
gespannt. Hedwig Frenzel kam bald wieder zurück, kreidebleich, klammerte
sich an ihren Mann und sagte: "Oskar, es ist aus, oben stehen amerikanische
Panzer! "
Heute kann ich mir vorstellen, was es für die
Erwachsenen bedeutet hat. Wir Kinder stellten uns ganz schnell auf
die neue Situation um. Der Schuppen von Martin Frenzel auf der gegenüberliegenden
Straßenseite hatte auch einen Treffer abbekommen und brannte. Was
erregte aber unsere Aufmerksamkeit besonders? Wir sammelten die
Splitter oder Geschoßreste! Dann liefen wir ins Unterdorf bis zu
Schwarzens. Während auf der Dorfstraße nur einzelne Panzer standen,
eröffnete sich uns - und nicht nur uns Kindern - hier an der Straße
nach Ebersbach ein ungewöhnliches Schauspiel. Kolonnen von Panzern,
LKW, Geschützen und Jeeps fuhren langsam, aber kontinuierlich vom
Bahnhof her den Ebersbacher Berg hinauf. Wer nun zuerst einen Arm
zum vorsichtigen Winken gehoben hat - ein Amerikaner auf einem Panzer
oder einer von den erwachsenen Tautenhainern oder eines von uns
Kindern? - weiß ich nicht mehr. Aber an eines erinnere ich mich
ganz genau: Wir Kinder standen ganz vorn und winkten. Da kam von
hinten aus der Ansammlung der Erwachsenen eine Frau auf uns zu,
packte uns bei den Schultern und sagte ganz aufgeregt und eindringlich:
"Das sind doch unsere Feinde! Wie könnt Ihr denn unseren Feinden
zuwinken! " Es war eine Frau aus Leipzig, die ebenfalls einige Wochen
nach Tautenhain eingewiesen war. Bis zu diesem Tag galt sie wohl
als überzeugte Nationalsozialistin, von nun ab wurden Frauen dieser
Art eher als "Nazisse" bezeichnet.
Auszug aus dem Tautenhainer Dorfbuch Gottfried
Senf. Buchvorstellung hier.
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